Die Schere zwischen Arm und Reich könnte nicht größer sein als in Mumbai. Hier befindet sich einer der größten Slums unseren Planeten und gleichzeitig die obere Spitze des Finanzmarktes Indiens. Es ist die Stadt, in der Wolkenkratzer mit Luxushotels und teuren Rooftop-Bars nur eine Straßenüberquerung von der totalen Armut der Slums entfernt sind. Diese Gegensätzlichkeit ist deutlich zu spüren und war unfassbar hautnah mitzuerleben.
Ich bin nach Mumbai gereist, um beide Seiten der Stadt kennenzulernen. Es sind eben beide Seiten der Medaille, die erfahren werden müssen, um die Stadt zu verstehen. Geplant waren 2 Tage geprägt von Gegensätzen, die ich hautnah erfahren sollte. Die erste Nacht verbrachte ich in einem Hostel. Es lag in einem eher lokalen Viertel Mumbais. Lokale Geschäfte und das bunte Straßentreiben haben mich in das Leben der Locals eintauchen lassen. Um noch weiterzugehen und das wirklich authentische Leben des Bevölkerungsgroßteils zu erfahren, beschloss ich den Tag in einem der größten Slums in Mumbai zu verbringen.
Die 21,3 Millionen Einwohner starke Stadt Mumbai ist in jeder Hinsicht ein Superlativ. Das riesige Ausmaß der Stadt ist kaum begreifbar, Um von dem einen Punkt zum anderen zu kommen muss man (gerade in der Rush Hour) schon einmal ein paar Stunden Zeit einplanen. Auch die Anzahl der Slums ist enorm. Es gibt ca. 2.000 Slums in Mumbai. Die Einwohnerzahl ist nirgendswo genau dokumentiert, wird aber von verschiedenen Forschern auf ca. 10.000 Menschen geschätzt. Damit lebt ca. die Hälfte der Stadtbevölkerung in den Slums. Sie leben in Hütten aus Wellblechen, Zelten und teilweise kleinen Häusern, die oft gerade einmal 10 qm groß sind. Der Wohnraummangel ist deutlich zu spüren und die Bevölkerungszahl steigt stetig an. Der größte Slum ist der Dharavi- Slum mit schätzungsweise rund 1 Millionen Einwohnern. Genaue Werte gibt es derzeit nicht und ist auch gar nicht wirklich dokumentierbar.
Bevor ich mich auf den Weg machte, gingen mir einige Gedanken durch den Kopf. Ich fragte mich was mich wohl erwarten würde und ob ich mit dem, was ich sehen würde, gut umgehen könnte. Ich hatte Angst auf Armut und Unglück zu stoßen, hatte Angst durch meine sehr empathische Ader nicht mit dem Leid, was mir begegnen würde, umgehen zu können. Doch das waren unbegründete Sorgen.
Durch lokale Kontakte haben wir (Ich und ein paar Leute, mit denen ich zusammen gereist bin) eine private Führung durch den Dharavi-Slum bekommen. Ein Einwohner empfing uns mit einem stolz erfüllten Lächeln und zeigte uns seine Nachbarschaft. Die Straßen waren eng und voller Müll. Die prallende Mittagssonne staute sich in den schmalen Gassen und es roch teilweise sehr unangenehm. Begrenzt waren die Gassen durch selbst zusammengeschusterte Wellblechhütten und kleine ziemlich bedürftig zusammenhaltende Häuser. Der Dharavi-Slum ist wie ein eigenes Viertel Mumbais. Hier gibt es alles, was man zum Leben braucht, sodass man ihn kaum verlassen muss. Es ist nicht nur ein Wohnviertel, nein hier wird auch gearbeitet, zur schule gegangen und die Freizeit genossen.
Der Dharavi-Slum besteht aus verschiedenen Distrikten. In einem befinden sich ausschließlich Wohnungen beziehungsweise eher nur Zimmer. Hier schlafen üblicherweise bis zu 8 Leute in einem Raum. Da der Wohnraum knapp ist, der Slum aber, auf Grund der Lage mitten in der Stadt, nicht weiter expandieren kann, steigen die Mietpreise kontinuierlich an. Ich versuchte mir vorzustellen wie es wohl sein muss so zu leben. Ich fragte mich ob sich die Menschen bedrängt vorkamen und ob die fehlende Privatsphäre stören würde. Doch so war es nicht.
Die Menschen im Slum kennen es nicht anders. Schon seit Generationen sind die Familien der Bewohner hier ansässig. Sie kannten es nie anders und sind sogar sehr zufrieden so. Denn das Zusammenwohnen mit der ganzen Familie hat auch Vorteile. Der Familienzusammenhalt ist unglaublich stark und auch Freundschaften zählen unglaublich viel. Wer ein bisschen Privatsphäre möchte geht einfach nach draußen, denn drinnen ist man sowieso eher nur zum Schlafen. Ich schätze in diesem Aspekt ist es wirklich signifikant, wie man aufgewachsen ist. Für uns waren es unmögliche Lebensbedingungen und für die Menschen dort Normalität.
In einem anderen Distrikt befanden sich verschiedene Betriebe. Hier arbeiteten die Menschen. Gerade Werkstätte befanden sich hier einige. In einigen wurden Lederwaren hergestellt. Der Geruch der Gerbereien war hier allgegenwärtig. Riesige Recyclinganlagen am Straßenrand befassten sich mit der Mülltrennung und der Wiederverwendbarkeit der Rohstoffe. So wurde in einer Werkstatt allerlei Plastikmüll gesammelt und wieder eingeschmolzen. Auch dieser Prozess führte zu einem eher unangenehmen Geruch. Was mich jedoch am meisten mitgenommen hat, waren kleine Koffer und Kleidungsfabriken. Hier saßen mehrere Kinder in Reihen nebeneinander an Nähmaschinen und nähten die Stoffe zusammen. Es war ein Anblick, der mich zutiefst schockierte. Am liebsten hätte ich die Kinder von der Nähmaschine weggezogen und aus dem ganzen Dreck rausgeholt, doch ich konnte nicht und wusste, dass es nichts bringen würde. So etwas dürfte es nirgendwo auf der Welt geben, doch es ist die Realität. Ich fragte mich, was für Perspektiven diese Kinder haben würden und wie ihre Zukunft wohl aussehen mag. Mir wurde so bewusst wie noch nie zuvor wie unglaublich privilegiert ich war in Deutschland unter so behüteten Bedingungen aufwachsen zu können.
In einem anderen Viertel hatte ich eine ganz andere Extremerfahrung. Ich sah ich eine kleine Bäckerei, in der ein Mann Brot über dem offenen backte. Leicht hungrig fragte ich fragte ihn was ein Bot kosten würde. Theoretisch war mir egal was es kosten würde, denn ich kam mir hier sowieso wie eine über-privilegierte reiche junge Frau vor. Daraufhin lächelte er mich an, gab mir das Brot und meinte nur „nichts, das ist ein Geschenk“. Ich konnte es fast nicht glauben. Wie konnte mr jemand etwas schenken, wenn ich ihm Geld anbieten wollte und er es offensichtlich gut gebrauchen kann. Doch hier funktioniert der Wert von Dingen anders. Ich fragte meinen Guide nach einer Erklärung, weshalb ich nichts bezahlen musste. Er meinte nur zu mir: „Du hast doch bezahlt. Nur nicht mit Geld, sondern deine freundliche Art und einem Lächeln. Das ist doch viel mehr wert“. Da wurde mir bewusst wie unterschiedlich die Wert-Zuordnung ist und dass wir in Deutschland immer super viel mit Geld begleichen wollen, doch das ist eben nicht das Einzige, was zählt.
Der Wohlstandard ist nicht überall auf der Welt so hoch wie in Deutschland und dass wurde mir hier sehr bewusst. Plötzlich empfand ich eine enorme Wertschätzung für den Luxus, den ich in Deutschland habe. Mir wurde bewusst, dass ich all das Materielle und all den standardisierten deutschen Luxus nicht brauche, um ein glückliches Leben zu führen. Ja hier im Slum mangelte es an Qualitätsgütern und an vielen materiellen Dingen, doch was den Menschen im Slum definitiv nicht fehlte, war Lebensfreude. Obwohl die Lebensbedingungen miserabel waren, bin ich hier selten Menschen ohne Lächeln auf den Lippen begegnet. Tja, die Wertschätzung funktioniert hier eben anders und ist nicht allzu stark an Finanzielles oder Materielles geknüpft. Füreinander da zu sein und gemeinsam ein glückliches Leben zu führen, ist das worum es hier geht. Das habe ich mitgenommen aus dieser Grenzerfahrung und versuche es so gut es geht auf mein Leben in Deutschland auszuweiten.